Angst kann uns beschützen, wenn wir zu schnell Auto fahren oder der nächtlicher Heimweg viele dunkle Ecken hat. Gerät sie außer Kontrolle, wird sie unser Leben kontrollieren. Man kennt einen Menschen erst so richtig, wenn man von seinen Ängsten weiß. Das gilt nicht zuletzt auch für einen selbst.
Ich war mit meinem zwei-jährigen Sohn neulich beim Kinderarzt. Schon als die Tür zur bunt bemalten Praxis aufging, dämmerte ihm, dass er genau hier beim letzten Mal böse gepikst wurde: „Mama, ich habe Angst!" sagte er mit aufgerissenen Augen. Ich nahm ihn auf den Arm, als er darum bat. Ich habe dann das nötige Messen von Größe und Gewicht selbst übernommen und die Arzthelferin um Verständnis gebeten. Der Arzt hat sich ebenfalls mit Fragen rund um seinen Entwicklungsstand begnügt, während der Junge auf meinem Schoß sitzenbleiben durfte. Er brauchte das: Sicherheit, Trost und Beistand. Mein Sohn hat ein Gefühl benannt und den richtigen Umgang damit eingefordert. Ich kenne haufenweise große Leute, die keine Ahnung haben, was genau sie eigentlich fühlen. Und noch schlimmer, wie sie damit umgehen sollen. Ich bin eine davon. Wir erwachsene hören unseren Ängsten nämlich viel zu oft nicht zu. Wir halten sie nur aus oder verdrängen sie. So werden unsere Ängste mit der Zeit schön groß und fett. Die emotionale Not, die eigentlich dahinter steckt, ist irgendwann kaum noch zu erkennen. Auf unserer Fahrt durch den Alltag sitzt dann die Angst am Steuer und rast mit unserem kläglichen Rest durchs Leben. Dabei müssten wir eigentlich auch mal dringend auf den Arm.
Darf ich vorstellen? Das bist Du!
Mit 18 glaubte ich, die Welt verstanden zu haben. Endlich volljährig durfte ich Wählen, Autofahren und harten Alkohol trinken. Die Gesellschaft sagte mir: "Du bist jetzt erwachsen!" und ich antwortete mit einer Alkoholvergiftung und an die Wand gefahrenen Beziehungen. Ich hatte überhaupt noch keine Ahnung, wer ich war. Brauchbare Gefühle waren Spaß und Wut, alles andere wurde ignoriert. In diesem Alter dachte ich, dass ich so ein Mensch wäre, der keine Therapie braucht wegen ein bisschen Essstörung. Mit 25 habe ich dann gelernt, dass da die Angst aus mir sprach. Ich hatte Angst, ein echtes Problem zu haben. Und dann hat meine Therapeutin mir erklärt, was ich eigentlich für ein Mensch bin: viel weniger souverän und eher so hilflos und verletzlich. Die Bulimie ging, die Angst blieb. Sie bahnte sich neue Wege und wurde mit mir zusammen erwachsen. Ich hatte jetzt also große Angst. Jedes Drama ein „siehste!" für meinen seelischen Ausnahmezustand. Bis ich endlich mal hinsah.
Die Angst vor der Angst besiegen
Seine eigenen Ängste zu reflektieren, ist ein bisschen wie Gladiator sein im alten Rom. (Bitte vergesst kurz Russel Crowe, OK?!) Du hast Deine Gegner noch nicht gesehen, weißt aber schon, dass sie Dich fertig machen werden. Zur Verteidigung bekommst Du: den Glauben an Dich selbst. Na toll! Und jetzt raus mir Dir, Du feige Sau! Leider ist die Sau schon ganz schön fett geworden und kommt nur noch schwer aus den gemütlichen Verdrängungs-Katakomben. Unsere Ängste sind nämlich der verfluchte Endgegner und deswegen lungern wir lieber bis zum Sankt Nimmerleinstag im Untergrund der Arena. Außer irgendetwas zwingt uns, rauszukommen. Hier hat das Leben verschiedene Überraschungen parat, um uns aus der Reserve zu locken. Wir müssen vielleicht eine wichtige Entscheidung treffen, mit einem Schicksalsschlag umgehen oder Verantwortung übernehmen und merken plötzlich: Es geht nicht! Manche Menschen haben sogar eine handfeste Verhaltensstörung aufgrund negativer Erlebnisses oder frühkindlicher Fehlprägungen entwickelt. Oft kommen Panikattacken hinzu, die Körper und Geist in einen regelrechten Kriegszustand versetzen. Die Angst wütet und wächst, die Lebensqualität sinkt, der Leidensdruck steigt.
Ab in die Arena
Und erst wenn der so hoch ist, dass man doch lieber mal gucken will, was in der Arena steht, weil das jetzt auch nicht mehr schlimmer sein kann, als dauernd Sklave einer unbekannten Macht zu sein. Dann… ja, dann sieht man ihnen das erste Mal ins Auge, den kleinen miesen Versagensängsten, der bitteren Angst vor dem Verlassenwerden, nicht genug zu sein, klein, wertlos, allein. Spätestens jetzt erkennt man aber auch, dass man nicht in das Auge Saurons blickt, sondern in die, seines hilflosen inneren Kindes. – Was hab ich Dir nur angetan? Gebissen und geschrien hast Du, Dich verweigert oder vor lauter Angst lieber gleich gefügt. Niemand hat Dich verstanden. Nicht mal ich. Tief in mir sitzt ein Gefühl der Minderwertigkeit und die Angst, nicht gut genug zu sein und deswegen verlassen zu werden von allen Menschen, die mir etwas bedeuten. Erst seit ich das weiß, lebe ich nicht mehr in Angst, sondern nur noch mit ihr. Sie hat einen ziemlich großen Teil ihrer Macht eingebüßt und hält jetzt immer öfter die Klappe.
Mit 17 hat man vielleicht Träume, aber oft auch keine Ahnung
Wir sind Menschen, wir haben alle Angst. Angst davor, verletzt zu werden oder jemanden zu verlieren – im schlimmsten Fall uns selbst. Im Laufe unseres Lebens haben wir nämlich schon hier und da Federn gelassen. Unsere Psyche versucht, die Wiederholung dieser emotionalen Belastung unbedingt zu vermeiden und reagiert daher mit Alarm, sobald sich eine ähnliche Situation anbahnt. Das ist normal. Dass man Angst hat, muss man aber erstmal begreifen. Wenn man 17 ist und Bindungsängste hat, hält man sich noch für freiheitsliebend. Mit 37 und gebrochenem Herzen, sieht man das vielleicht anders. Dann muss man ran. Und hingucken. Angreifen. Denn das ist die beste Verteidigung.
„Angst essen Seele auf"
Wenn Ängste Überhand nehmen und regelrecht krank machen, spricht man von einer Angststörung. Etwa ein Viertel aller Menschen macht irgendwann eine solche psychische Erkrankung durch. Eine Angststörung ist gut mit einer Allergie vergleichbar. Das allergische Immunsystem hat extremen Schiss vor Pollen, weil es diese für Krankheitserreger hält. Es flippt schon aus, wenn das erste Nasenhaar im Frühjahr die frohe Kunde vermeldet, dass jetzt bald wieder alles blüht. Das Abwehrsystem ruft den sofortigen Notstand aus, nur weil auf irgendeiner Wiese 30 Km entfernt ein Maiglöckchen das Köpfchen reckt. Augen-Nasen-Lockdown den ganzen Sommer lang. Fantastisch! So ähnlich ist das auch bei Angststörungen. Das emotionale Warnsystem reagiert komplett über, sobald es getriggert wird.
Gib Angst keine Chance
Es gibt Menschen, die müssen jeden Tag mit ihren Ängsten kämpfen und für Außenstehende sieht es so aus, als wenn die ein ganz normales Leben führen. Zum Zahnarzt gehen, obwohl schon der Praxis-Geruch in die Ohnmacht zwingt, ist eine große Leistung. Dem misogynen Chef Kontra geben, wenn man Zurückweisung fürchtet oder einfach unter Existenzängsten leidet, ist eine wahre Heldentat. Eine Beziehung führen, obwohl man glaubt, man stirbt, wenn man Gefühle zeigt, ist überirdisch. Manchmal ist schon rausgehen eine Mammutaufgabe. Angst, meine lieben Freunde, ist nicht einfach nur sich zierende Koketterie, sie sitzt in der menschlichen Brust und gibt den Ton an. Sie ist immer da und zeugt von unseren innersten Verletzbarkeiten. Getriebene von Angst können niemals frei sein, nicht frei lieben, nicht frei entscheiden, nicht frei leben. In konkreten Bedrohungssituationen ist Angst eine vorübergehende Emotion und nützlich. Sie macht Puls und mit Hormonen kurzzeitig sowas wie Superkräfte. Psychische Angst lähmt und geißelt hingegen. Leben bedeutet leider auch verletzt zu werden, Fehler zu machen, zu scheitern – Drama eben. Vermeidungstaktiken aus Angst vor negativen Erlebnissen umschiffen letztlich nur das Leben selbst. Und davon haben wir bekanntlich nur eins. Also ab in die Arena und hol Dir das geile Leben, denn das gibt es zu gewinnen. Frag die Angst nicht erst um Erlaubnis.
Frag: „Wer bin ich eigentlich ohne Angst?"
Sprich über Deine Angst und hol Dir Hilfe!
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